Mit Fleiß und Beharrlichkeit, einer Mischung aus Innovation und Qualität, schafft es Medizintechnik in Tuttlingen an die Weltspitze – dank Mittelständlern und Konzernen. Doch Startups sind bisher Mangelware.

Tuttlingen - Auf halber Strecke zwischen Zürich und Stuttgart weisen Schilder an der Autobahn auf „Tuttlingen – Weltzentrum der Medizintechnik“ hin. Am Fuße des Honbergs, im Tal der Oberen Donau, deuten bereits am Ortseingang architektonisch auffällige Gebäude auf ein reges Wirtschaftsgeschehen hin.

 

Besonders ins Auge stechen die riesigen Backsteingebäude der Jahrhundertwende und Fabrikgebäude aus Glas und Stahl an einem ungewöhnlich groß dimensionierten Kreisverkehr: Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat hier die Firma Aesculap, mit einem Umsatz von 1,8 Milliarden Euro das größte Unternehmen am Platz, ihren Sitz. Die frühere Aktiengesellschaft ist seit 1976 Teil des Gesundheitskonzerns B. Braun.

Die Stadt gibt sich auf den ersten Blick bescheiden

Abgesehen davon ist Tuttlingen eher bescheiden. Abbröckelnde Fassaden, kleine Geschäfte, einige leer stehende Lokale und Geschäfte sowie ein paar Spielhallen fallen auf. „Die Leute hier tragen den Wohlstand nicht zur Schau“, erklärt Professor Michael Ungethüm. Der langjährige Aesculap-Chef ist eine Art Urgestein, dessen Wort in Tuttlingen noch immer zählt. Tuttlingen gehört zu den reichsten Landkreisen Deutschlands.

Die Wachstumsraten sind hoch, die Arbeitslosenquote ist mit 2,4 Prozent niedrig. Seit 1998 nahm die Zahl der Beschäftigten um 25 Prozent zu. Die 35 000-Einwohner-Stadt zählt allein in der Medizintechnik mehr als 12 000 Mitarbeiter. Die größten Arbeitgeber, Aesculap und Karl Storz, beschäftigen hier 3600 bzw. 2800 Mitarbeiter. Hinzu kommen laut Thomas Wolf von der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg rund 400 kleine Unternehmen.

Medizintechnik in Tuttlingen reicht ins 19. Jahrhundert

Fleiß, Bescheidenheit, Sparsamkeit, Beharrlichkeit und eine protestantische Arbeitsethik prägen die Region seit jeher. Man musste sich hier besonders anstrengen, denn die Gegend ist arm. Die Böden werfen nur karge Erträge ab. Schuhindustrie und Messerherstellung sind lange verschwunden. Schon im 19. Jahrhundert spezialisierten sich Messerproduzenten auf chirurgische Instrumente. Einer der ersten war Karl Jetter, der nach Lehrjahren in Straßburg, Wien, Genf und Paris 1867 den Vorläufer von Aesculap gründete.

Das Unternehmen wuchs schnell. Bereits 1893 gab es eine Vertretung in New York. Im Umfeld entstanden weitere Betriebe. Mitarbeiter machten sich selbstständig, tüftelten in kleinen Werkstätten an Verbesserungen – wie heute Start-ups. Das war laut Ungethüm entscheidend: „Wettbewerb fördert Innovationen und Diversifikation.“

Aesculap feierte 2017 das 150-jährige Bestehen. Gerade hat die ultramoderne Innovation Factory eröffnet. Hier werden Lösungen rund um Dienstleistungen präsentiert. Die 2001 fertiggestellte „Benchmark-Fabrik“, das teuerste Projekt in der Geschichte des Unternehmens, produziert Motoren für chirurgische Geräte und Container für Operationsbestecke.

Auch Neugründungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Aesculaps Antipode ist Karl Storz, ein Unternehmen, das erst 1945 gegründet wurde und mit Erlösen von 1,7 Milliarden Euro sowie weltweit 7500 Mitarbeitern eine beachtliche Größenordnung erreicht hat. Karl Storz hat seinen Sitz am anderen Ende der Stadt und wird von der inzwischen 81-jährigen Matriarchin Sybill Storz, Tochter des Unternehmensgründers, geführt.

Den Aufstieg verdankt das Familienunternehmen der Endoskopie. Karl Storz brachte mit seinen Geräten gewissermaßen Licht ins menschliche Innere. Manche hier sagen, Aesculap habe diese Entwicklung verschlafen. Das Verhältnis beider Unternehmen ist eher frostig.

Karl Storz ist ein Weltkonzern mit 54 Tochtergesellschaften in 42 Ländern. Natürlich gibt es ein eigenes Fortbildungszentrum, in dem Ärzte, die mit ihren Ideen zur Entwicklung neuer Produkte beitragen, für den Einsatz der Geräte aus- und weitergebildet werden. Im Besucherzentrum führt Pressesprecherin Regina Stern einen 3-D-Operationsblock mit digitaler Bildbearbeitung, integrierte und über IT vernetzte OP-Säle und ein neuartiges Notfallendoskop vor. „Wir sind ein Familienbetrieb und arbeiten langfristig“, antwortet Stern auf die Frage, ob ein Börsengang denkbar sei. Mit Karl-Christian Storz steht die dritte Generation in den Startlöchern.

Medizintechnik in Tuttlingen hat eine hohe Exportquote

Die Exportquote der Tuttlinger Medizintechnik-Unternehmen liegt bei 67 Prozent, deutlich über den 41 Prozent des stark exportlastigen Baden-Württemberg. Dabei ist Tuttlingen ein Hochlohnstandort. „Wir müssen auf Qualität setzen. Wenn wir nicht 100 Prozent made in Germany anbieten, gehen wir unter“, glaubt Jürgen Stickel, Geschäftsführer der Fetzer Medical GmbH. Das Unternehmen entstand 2008 aus einer Ausgründung und gehört drei Geschwistern.

Im modernen Werk aus Beton, Glas und Holz am Rande der Stadt schweift der Blick über Felder zu bewaldeten Hügeln. Fetzer entwickelt und produziert präzise chirurgische Instrumente für große Unternehmen, aber auch Kleinserien und Sonderanfertigungen für Ärzte, dazu Standard-Instrumente – mehr als 10 000 Artikel: „Wir sind eine Mischung aus Old und New School.“ Hochmoderne Maschinen mit neuester Fertigungstechnik sind zu sehen, aber auch klassische Handwerksmeister, deren Know-how „unbezahlbar“ sei.

So wie bei Fetzer setzt die Medizintechnik in Tuttlingen auf Innovationen sowie Premiumprodukte höchster Qualität. „Ein guter Handwerker oder Facharbeiter kann bei uns so viel verdienen wie ein Ingenieur“, meint Stickel. Dennoch fehlen Fachkräfte. Junge Leute wollen lieber studieren oder wechseln spätestens nach der Lehre an eine Hochschule. Es brauche qualifizierte Zuwanderung, aber auch Flächen zur Expansion. Und eine bessere Verknüpfung von Theorie und Praxis, eine bessere Vernetzung von Forschung und Wirtschaft.

Ein neues Innovationszentrum soll Startups fördern

Wegen der Abschottung und Geheimniskrämerei, die nicht nur zwischen Aesculap und Karl Storz herrscht, hat es lange gedauert, bis man sich auf einen Hochschulcampus im Stadtzentrum verständigte, der zur Hälfte von der Industrie finanziert wird. 600 Studenten studieren hier etwa Virtual Engineering, Medizin- und Werkstofftechnik oder Mechatronic Systems. Das neue Innovations- und Forschungszentrum, das laut Yvonne Glienke die Zusammenarbeit von Unternehmen fördern sowie Gründern Räume zur Verfügung stellen will, wird am 25. Juli eröffnet.

„Es gibt zu wenige Gründer und viele Familienunternehmer finden keinen Nachfolger“, sagt die Geschäftsführerin der MedicalMountains AG. „Wir hoffen, dass das neue Zentrum als Inkubator eine bisher nicht vorhandene Szene entstehen lässt“, fügt sie hinzu. MedicalMountains ist eine Cluster-Initiative, die die Anliegen der Branche nach außen vertritt und Arbeitskräfte „in diese schöne Region mit niedrigen Preisen und wirtschaftlicher Attraktivität“ ziehen will. Ungethüm würde sich noch mehr Dynamik wünschen. Doch um die Zukunft der Medizintechnik in Tuttlingen ist ihm nicht bange. „Es gibt hier so viele clevere Unternehmen wie sonst nirgends.“