Innovation einmal andersherum, das ist der Tenor dieses Gastbeitrags. Um wirklich etwas anderes zu machen, argumentiert Jörg Dubiel, braucht es eine verdrehte Form der Vernunft – die so genannte Kontrainduktion.

Stuttgart - Wer Innovationen erfolgreich vorantreibt, hat mehr Spaß, Anerkennung und beruflichen Erfolg. Das gilt in nahezu allen beruflichen Herausforderungen und Positionen, denn Innovationen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Entsprechend rückt Innovationsmanagement in den Fokus. Dabei gibt es zwei große Herausforderungen: Zuerst müssen uns innovative Ideen einfallen. Die Phase der Ideenfindung ist die sogenannte Generierungsphase. Danach müssen wir diese Ideen hinsichtlich Machbarkeit und Erfolgspotenzial einschätzen. Die Phase der Ideenbeurteilung ist die sogenannte Bewertungsphase. Dieser Beitrag berührt die Bewertungsphase. Er postuliert: Alternative Vernunft verbessert Innovationsprozesse.

 

Das Problem: Traditionelle Innovationsbewertung

In der Generierungsphase wenden wir noch unbeschwert kreative und auch “unvernünftige” Verfahren an. In der Kreativitätsphase ist sozusagen jedes Mittel recht – und wenn die betreffende kreative Person dazu etwas rauchen müsste. Entscheidend ist die Freiheit von Denkbarrieren. Diese Denkbarrieren treten dafür umso mehr in der anschließenden Bewertungsphase auf. Wer will sich hier schon blamieren? Deshalb dominieren vernünftige no-nonsense Kriterien der Ideenbewertung. Die meisten dieser Kriterien schätzen die Passfähigkeit einer konkreten innovativen Idee in Bezug auf ökonomische Rahmenparameter wie Marktattraktivität, die angestrebte Marktposition, den strategischen “Fit”, Stärken, Schwächen, Entwicklungsmöglichkeiten und Risiken ein. Je positiver wir eine Idee anhand dieser traditionell-vernünftigen Kriterien bewerten, desto eher erproben wir die Idee auch im Markt und geben Ihr so eine Chance von der bloßen Invention zur wahrnehmbaren Innovation zu werden. Das ist das Problem. Traditionelle Maßstäbe, die sich an gegebenen ökonomischen Parametern orientieren, fördern nichts Neues.

So einfach entwickeln Sie eine neue Vernunft

Traditionell-vernünftige Bewertungskriterien benachteiligen manche potenzielle Innovationen und machen den Innovationsprozess ineffektiv. Eine vernünftige Lösung dieses Problems ist es diese Bewertungskriterien stringent umzudrehen und zu sehen, was dann herauskommt. Der Trick ist es also, die gegebene traditionell-vernünftige Bewertungsmethode beizubehalten und nur die Vorzeichen konsequent umzudrehen. Innovative Ideen, die zunächst schlecht bewertet wurden, können danach auf einmal gut bewertet werden. Wichtig ist, dass wir diese Ideen auch auf einem “verkehrten” Testmarkt erproben. So unvernünftig sich das anhört: wir bewegen uns immer noch im Rahmen der etablierten Vernunft – nur eben andersherum. Dadurch kommen wir zu neuen – innovativen – Ergebnissen, was ja der Zweck des Innovationsprozesses ist, und sind somit wieder vernünftig. Es war der österreichische und in den USA lehrende Philosoph Paul Feyerabend der dieses Prinzip als Kontrainduktion erstmals in der Erkenntnistheorie unter dem Schlagwort “anything goes” einführte.

Beispiel für Kontrainduktion: Vom Buch zum Wein

Ein reales historisches Beispiel zeigt, wie Innovationsmanagement mit Kontrainduktion funktioniert. Um die Jahrtausendwende beschloss Reader’s Digest, ein amerikanisches Medien- und Direktmarketingunternehmen, neue, innovative Geschäftsfelder zu etablieren, um neue Umsatzquellen erschließen. Dazu identifizierte das Unternehmen per Suchfeldanalyse alternative Geschäftsfelder. Im Jahr 2002 beschloss auch die Stuttgarter Tochtergesellschaft, ihr bisher auf Zeitschriften, Büchern und Tonträgern fußendes Produktportfolio zu erweitern. Eine Geschäftsfeldalternative war “Distanzhandel Wein”. Anschließend selektierte eine Unternehmensberatung alle Geschäftsfeldalternativen nach üblichen “vernünftigen” Kriterien (Kompetenz, Marke, Konkurrenz. Marktentwicklung…). Dabei wurde “Distanzhandel Wein” in allen Kriterien schlecht bewertet und erhielt in Summe das schlechteste Gesamtergebnis.

Die Gründe “Distanzhandel Wein” abzulehnen

Die Gründe “Distanzhandel Wein” abzulehnen waren konkret folgende :

1. Das “Unternehmen” besaß im Markt keine ausgeprägte Weinkompetenz und war damit für die als neue Zielgruppe identifizierten “Weinconnoisseure” uninteressant.

2. Auch bestehenden Kunden des Unternehmens zeigten in Marktforschungen kein Interesse an Wein.

3. Der Distanzhandel Wein befand sich in einem schwierigen Umfeld. Die Konkurrenz war groß, die Marktanteile rückläufig.

Die Gründe “Distanzhandel Wein” anzunehmen

Mit konsequent umgedrehten Vorzeichen des Bewertungsmaßstabes lautet die neue Bewertungsregel:

1. Erprobe ein Geschäftsmodell, das keine Marktforschung bestätigt.

2. Erprobe ein Geschäftsfeld, auf dem das Unternehmen keine Kompetenz hat.

3. Verwende eine Marke, die nicht kompatibel ist mit den üblichen Weinzielgruppen (Connoisseure)

4. Erprobe ein Geschäftrsfeld mit harter Konkurrenz und rückläufigen Marktanteilen.

Unter diesen Bewertungskriterien ist “Distanzhandel Wein” eine äußerst vielversprechende Alternative. Diese war nun konsequenterweise auf einem ebenfalls kontrainduktiven Testmarkt zu erproben, dessen Angehörige keine erkennbare Weinaffinität und kein Connoisseurprofil besaßen, sondern eine Affinität zu allem möglichen – aber eben nicht zu Wein. Das Ergebnis des Experiments übertraf alle Erwartungen und war mit steigendem Erfolg wiederholbar. So verkaufte das Unternehmen bis zu 400 000 Flaschen Wein in wenigen Tagen. Das Geschäftsfeld trägt seither nachhaltig zum Gewinn bei. Die deutschsprachige Gesellschaft konnte sich damit in einem schwieriger werdenden Umfeld für das traditionelle Mediengeschäft von der Entwicklung im Konzern positiv abheben.

Im Nachhinein betrachtet erscheint dieses Ergebnis keinesfalls widersinnig oder auch nur rein zufällig:

1. Die Kunden wurden durch das Weinangebot überrascht und reagierten positiv darauf, vielleicht gerade weil Wein in Umfragen nicht angegeben wurde und deshalb wirklich überraschend war in dem Sinne des Philosophen Wittgenstein, der sagte “woher weiß ich, was ich will, bevor ich es erlange“.

2. Weil die Kunden keine erkennbare Weinaffinität hatten, wurden Sie auch nicht von anderen Weinversendern angesprochen, was die Konkurrenz verringerte.

3. Die Kunden akzeptierten das wein-untypische Markenimage und die nicht offensichtliche Weinkompetenz des ungewohnten Anbieters, weil sie selbst keine typischen Connoisseure waren und vertrauten deshalb in die Selektionskompetenz und Markenkraft des Unternehmens. Dieser an sich klassische Imagetransfer erlaubte es, auch Produkte erfolgreich zu vermarkten, die außerhalb des ursprünglichen Portfolios liegen.

Entscheidend ist, das diese und andere ex-post Erklärungen hinterher kommen, das heißt reale Sachverhalte erklären, die erst durch die Umkehrung üblicher Bewertungskriterien zustande kamen. Kontrainduktion verändert die Haltung von “Wir wissen nicht, ob es funktioniert, aber es ist falsch” hin zu “Wir wissen nicht, ob es stimmt, aber wir versuchen es”. Dies ist kein kopfloses Vorgehen, sondern alternative Vernunft, die durch ebenfalls alternative Erprobungsbedingungen in sich schlüssig und daher vernünftig bleibt. Wer dieses Instrument der konsequenten Vernunftumkehrung beherrscht hat beste Erfolgschancen in Innovationsprozessen. Kontrainduktion kann nicht immer und niemals natürlich mit Garantie auf Erfolg eingesetzt werden. Aber das Verständnis der Kontrainduktion erweitert unseren alternativen Methodenvorrat. Je größer dieser Vorrat ist, umso leichter ist es, innovative Ideen umzusetzen.

Über den Autor

Jörg Dubiel studierte an der Universität der Bundeswehr in München und an der Friedrich Schiller Universität in Jena. Er promovierte über den Einsatz artifizieller Intelligenz in Marketingprozessen und erprobte deren Anwendung in wissenschaftlichen, militärökonomischen und betriebswirtschaftlichen Anwendungen. Nach verschiedenen Stationen bei Handels- und Medienunternehmen leitet er heute in der Conrad Electronic S.E. den Bereich Corporate Intelligence. Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Artikels (Dubiel, J./Ruhland, J. (2010): Kontrainduktion und Innovation: Plädoyer für Feyerabend im Marketing. In: Marketing – Zeitschrift für Forschung und Praxis, H. 4, 4. Quartal 2010: S. 259–270).