Der E-Auto-Vermieter Deer des Calwer Energieversorgers ENCW will mit einer „Sorglos-Elektromobilität“ punkten. Das Startup will in Baden-Württemberg der größte Anbieter von E-Autos werden.

Calw - Was hat ein Energieversorger mit Autos zu tun? Direkt erst einmal gar nichts. In Zeiten der allerorten erwünschten Elektromobilität aber zumindest indirekt einiges. Wer Strom liefert, kann doch gleich auch die passenden Autos bereitstellen, so der Gedanke. Während Startups meist auf einzelne Komponenten wie Ladesäulen oder Batterien setzen, will die Energie Calw GmbH (ENCW) als Rundum-Dienstleister auftreten. Dafür hat man jetzt ein eigenes Startup namens Deer („Hirsch“) ins Rennen geschickt. Der Startschuss zu diesem Modell liegt fast acht Jahre zurück. Es begann mit der Anschaffung erster Elektrofahrzeuge und ausgiebigem Erfahrungsaustausch mit den potenziellen Nutzern zu deren Bedürfnissen und Wünschen.

 

Heute bietet der E-Auto-Vermieter Deer 60 Fahrzeuge an – und hat als Energieversorger selbst die dazugehörende Infrastruktur mit 130 Ladesäulen in der Region aufgebaut. Die Ziele sind ehrgeizige. In drei Jahren will man eine Flotte von 500 Fahrzeugen betreiben und wäre damit im Bereich der E-Autos mit der größte Anbieter in Baden-Württemberg. Das Unternehmen ist ein Beispiel dafür, wie ein lokal verankertes Energieunternehmen um sein ursprüngliches Angebot herum eine Mobilitätsmarke aufbaut.

Der E-Auto-Vermieter Deer hat deutschlandweite Ambitionen

Deer gibt sich einerseits lokal mit Bezug auf den Stammsitz Calw im Schwarzwald, wo das Mobilitätsmodell Kommune für Kommune ausgerollt wird. Andererseits hat das derzeit fünfköpfige kleine Startup ganz klar deutschlandweite Ambitionen. Denn, so sagt sein Gründer und Geschäftsführer Horst Graef: „Was in Calw funktioniert, kann auch in ganz Deutschland funktionieren oder in Südtirol oder überall.“ Der Vertriebler hat Großes vor. Früher oder später wird das Startup vermutlich Investoren für zusätzliches Kapital brauchen. Aus der Hand geben will man Deer aber nicht.

„Global denken, lokal handeln“ ist die Philosophie hinter dem Serviceangebot der Calwer. „Wir merkten, die Welt verändert sich“, sagt Graef. Deshalb habe man im Jahr 2014, als die ENCW einigermaßen konsolidiert gewesen sei, deutschlandweit die Schwarzwald Energy als Tochterunternehmen gegründet. „Heute hat dieses Startup über 20 000 profitable Kunden.“ Auch beim Stromlieferanten zähle anscheinend eine gewisse Heimatverbundenheit, sagt Graef. Man sei halt auch etwas für Schwaben in Berlin, meint er. Insgesamt verfüge man derzeit über mehr als 50 000 Kunden, doch letztlich bleibe Energie eine austauschbare Ware.

Beim Auto gibt es eine emotionalere Kundenbindung als beim Strom

Wie also kommen mehr Emotionen ins Geschäft, als dies der bloße Stromverkauf vermitteln kann, fragte man sich bei ENCW? Die Kundenbindung sollte wesentlich mehr umfassen als die grundlegende Versorgung mit Strom, Gas und Wasser. Das Thema Mobilität im Zusammenhang mit Ökologie bot sich dafür an.

„Uns wurde bewusst, dass es zwischen Ökologie und Ökonomie nicht mehr stimmt und dass ein Umbruch passieren muss“, sagt Graef. Man inszeniert sich also als Revolutionär im Bereich der Mobilität. Graef spricht als Marketingmensch da sogar von einem „Drehbuch“. Die Geschichte eines Unternehmens müsse für die Kunden stimmen, sagt er. Die Frage sei gewesen: „Was muss in diesem Drehbuch ‚neue moderne Mobilität‘ drin sein, fragten wir uns. Wir sind dabei der Regisseur und mittendrin als Konsument dieser Mobilität ist der Kunde.“ Wichtig sei beispielsweise, verschiedenste Akteure miteinander zu verbinden. Dazu gehörten Autohäuser, Versicherungen und digitale Firmen.

Der E-Auto-Vermieter Deer blickte zunächst auf den ländlichen Raum

Das Drehbuch beim E-Auto-Vermieter Deer war zunächst speziell auf den ländlichen Raum zugeschnitten. „Hier auf dem Land haben wir nicht das Parkplatzproblem – das hat die Stadt –, hier haben wir oft gar keine Mobilität“, sagt Graef. „65 Prozent der Bevölkerung leben im ländlichen Raum in Deutschland. Für die kämpfen wir in erster Linie.“ Deer soll als Ergänzung zum öffentlichen Nahverkehr verstanden werden, der in Calw zum Teil gar nicht existiere. „Wenn Sie nach Teinach zum Hotel Therme wollen, brauchen sie einen Shuttle-Service. Deshalb haben wir ein Carsharing-Projekt aufgebaut mit 20 Fahrzeugen, damit die Gäste in den Schwarzwald fahren können und auch wieder zurück.“

Der E-Auto-Vermieter Deer hat den Tourismus als mögliches Expansionsfeld identifiziert. Und dabei brauche man nicht nur an Deutschland zu denken. Statt auf Madeira für 80 bis 100 Euro mit einem Diesel unterwegs zu sein, sei es durchaus denkbar, an ganz anderen Standorten eine Vermietung von E-Fahrzeugen aufzubauen. „Es muss in die Köpfe rein, dass das geht. Zum Beispiel wenn wir dort eine Autovermietung aufkaufen, die alten Autos ausrangieren und stattdessen E-Fahrzeuge reinstellen“, sagt der Manager. ENCW baue zuerst eine Ladeinfrastruktur auf – dabei könne jeder mitwirken. „Das Gute ist ja: Alle verdienen dabei auch Geld. Aber wir wollen die Regie führen, denn wir haben das Modell und die Zigtausend Kundenkontakte.“ Eine Zusammenarbeit mit Konkurrenten sei dabei selbstverständlich.

Mobilität aus einer Hand und rund um die Uhr

Deer will das Mobilitätsproblem aus einer Hand und rund um die Uhr lösen. Der Anspruch: „Über Preise kann man diskutieren. Wenn man aber den Service hochhält, muss er auch funktionieren.“ Mit einem Tagessatz von 29,90 Euro unterschreitet Deer trotz seines Serviceversprechens die Preise anderer Anbieter erheblich. „Wir wollten nicht in Minuten abrechnen, denn sonst erzeugen wir Stress beim Nutzer. Deshalb haben wir einen Stundensatz und sobald der Stundensatz den Tagessatz überschreitet, rechnen wir dem Kunden automatisch den Tagessatz ab.“

Eine App und mehr nicht brauche der Nutzer, lautet das Versprechen. „Damit wird alles bedient. Abgerechnet wird zukünftig vielleicht auch mit Kryptowährung“, sagt Graef. Der Energiemanager will den Kunden von allen Zwischenschritten befreien. Natürlich will das schwäbische Energieunternehmen das Geschäft nicht nur geografisch ausweiten, die elektrische Flotte sukzessive vergrößern und alle zwei Jahre erneuern. Deer will auch in das Premiumsegment vorstoßen. In ganz Baden-Württemberg gibt es bisher 11 000 Elektroautos. „Da sind wir bestimmt die Nummer eins, wenn wir in den nächsten drei Jahren auf 500 Autos kommen“, sagt Graef. Ganz nebenbei kommen so elektrische Gebrauchtwagen in die Verkaufsräume.

Auch Luxus-E-Mobile sollen in den Fuhrpark

Man wolle ein breites Spektrum an Kundengruppen erschließen, ob nun die Bewohner von Mehrfamilienhäusern oder Firmen, die sich den Fuhrpark managen lassen wollen. „Das haben wir im Strombereich gelernt“, sagt Graef. Deshalb will er neben einigen Audi e-tron auch durchaus Tesla, Jaguar i-Pace, Mercedes-Benz EQ und Porsche für gehobene Ansprüche in seinem Fuhrpark haben. „Emotionen soll man nicht kaputt machen“, sagt er.

Dabei soll das Angebot von E-Autos nur ein Zwischenschritt sein. „Ich glaube sehr stark an Wasserstoff und an die Brennstoffzelle“, sagt Graef. Der Schlüssel sei das Versprechen ökologischer Mobilität, das man erst einmal mit der Elektrotechnologie aufbaue. „Wie die Primärenergie aussieht, ist uns letztlich egal, denn die Logistik ist aufgebaut und die funktioniert“, sagt Graef. „Wir sind erst am Anfang dessen, was wir alles realisieren können.“